Wann und mit welchem Ziel haben Sie erstmals den Begriff „Industrie 4.0“ definiert?
Im Auftrag der Bundesregierung haben wir in der Forschungsunion schon im Jahr 2010 ein für Deutschland wichtiges Zukunftsprojekt für die Anwendung cyber-physische Systeme und des Internet der Dinge konzipiert. Wir haben dies im Bereich der cyber-physischen Produktionssysteme angesiedelt, da in Deutschland jeder zweite Arbeitsplatz direkt oder indirekt von der Herstellung physischer Produkte abhängt. Im Dezember 2010 hatte ich bei einer Besprechung in der deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) in Berlin mit den Kollegen Kagermann und Lukas dann den Vorschlag gemacht, das Zukunftsprojekt „Industrie 4.0“ zu nennen. Dabei wird durch die Bezeichnung „4.0“ die vierte industrielle Revolution eingeläutet und gleichzeitig ein Hinweis auf die wichtige künftige Rolle von Software durch die in der IT bekannte Art der Versionenbezeichnung gegeben.
Am 1. April 2011 erschien dann unser erster Artikel zu Industrie 4.0 in den VDI-Nachrichten mit dem Titel “Industrie 4.0: Mit dem Internet der Dinge auf dem Weg zur vierten industriellen Revolution“.
Am 15. Juni 2011 habe ich meine Graphik zu den vier Stufen industrieller Revolutionen erstmals im Internet verteilt, die dann weltweit von Tausenden von Kollegen übersetzt und adaptiert wurde. Die intuitiv verständliche Graphik trug ohne Zweifel zur rasanten Verbreitung des Begriffs „Industrie 4.0“ bei. Der globale Siegeszug des Begriffes führte auch dazu, dass in vielen Ländern bis heute korrekt die deutsche Schreibweise „Industrie 4.0“ verwendet wird.
Hatten Sie Vorarbeiten zu Industrie 4.0, auf die Sie das Konzept aufbauen konnten?
Ja, bei der Spezifikation der Charakteristika für Industrie 4.0 haben wir auf konkrete Forschungsergebnisse des DFKI aufbauen können, die schon seit 2005 in unserer weltweit ersten Smart Factory in Kaiserslautern erarbeitet wurden. Auf der Basis des von Kollegen Zühlke betriebenen Demonstrators leitete ich schon seit 2008 das Projekt SemProm zu semantischen Produktgedächtnissen, welches jedem Fabrikmodul und jedem produzierten Produkt einen digitalen Zwilling zuordnete. Dieser speichert die Funktion und die gesamte Lebensgeschichte eines physischen Objektes in einer maschinenverstehbaren Repräsentation und steuert den Produktionsvorgang selbst aktiv, so dass mass customization bis hin zur Losgröße 1 wirtschaftlich möglich wird. Das vom BMBF geförderte Projekt konnte ich 2011 erfolgreich abschließen und ein Buch bei Springer publizieren, das bis heute wesentliche Grundlage für Industrie 4.0 ist. Damals haben wir am DFKI bereits kundenindividuelle Flüssigseifen in unterschiedlichen Mischungen auf einer voll funktionsfähigen Industrie 4.0-Anlage in einer service-orientierten Architektur herstellen können. Wir wussten also, wovon wir sprachen, als wir den Begriff „Industrie 4.0“ in die Welt setzten.
Hatten Sie damals schon einen globalen Erfolg des Konzeptes geglaubt und wann wird die vierte industrielle Revolution abgeschlossen sein?
Ich war damals schon überzeugt, dass Industrie 4.0 besonders durch die Fortschritte auf meinem Spezialgebiet der Künstlichen Intelligenz den Durchbruch für das Internet der Dinge in der Fabrik bringen wird. Die Idee zündete wie eine Rakete und ist immer noch sehr aktuell. Denn industrielle Revolutionen können nicht in einer Dekade komplett verwirklich werden, sondern brauchen in der Regel mindestens 30 Jahre. Weltweit sind heute erst maximal 10% aller Fabriken auf Industrie 4.0 umgestellt und es wird sicher noch bis 2030 dauern, bis mehr als Hälfe aller weltweiten Fabriken nach den Prinzipien von Industrie 4.0 arbeiten. Es gibt heute in einigen Ländern der Welt noch Fabriken, in denen nach dem Standard von Industrie 2.0 ganz ohne Digitalisierung gearbeitet wird.
Sie sehen die industrielle Künstliche Intelligenz als Treiber für die nächste Generation von Smart Factories. Was sind die Hauptgründe dafür?
Künstliche Intelligenz ist die Avantgarde der Digitalisierung. Die erste Welle der Digitalisierung der industriellen Produktion ist in innovativen Unternehmen bereits abgeschlossen: Daten werden nur noch digital gespeichert, übertragen und verarbeitet. Sie sind maschinenlesbar, aber noch nicht maschinenverstehbar. Die zweite Welle der Digitalisierung basiert auf Technologien der Künstlichen Intelligenz. KI-Software kann nun erstmals Maschinendaten auch inhaltlich interpretieren. Maschinen verstehen die Menschen in der Fabrik und deren Handlungsabsichten. Maschinen können die sprachlichen Beschreibungen der mechatronischen Funktionsweise von Maschinen semantisch analysieren und auf diese Weise autonom mit neuen Modulen umgehen. Der automatische Wissenserwerb von Industrie 4.0 kann durch KI auf drei Weisen erfolgen: durch maschinelles Deep Learning auf Maschinendaten, durch maschinelles Sprachverstehen von technischen Dokumenten und durch den Sprachdialogi mit Ingenieuren und Facharbeitern.
Welche weiteren Trends bestimmen die nächste Phase von Industrie 4.0?
Durch 5G und danach 6G Mobilfunknetze wird die drahtlose Kommunikation unter Echtzeitbedingungen mit garantierten Latenzzeiten möglich, so dass eine Fernsteuerung von Robotern und Fertigungsanlagen sowie eine Analyse von Sensordaten über weite Entfernungen kostengünstig und universell möglich wird. Wir haben am DFKI 5G in mehreren Testumgebungen erfolgreich zum Einsatz bringen können. Damit werden auch sog. Edge-Clouds möglich. Wir können damit in der Fabrik Sensordaten vor Ort fusionieren und mit maschinellen Lernverfahren analysieren, um z.B. eine Qualitätskontrolle schritthaltend in jedem Produktionsschritt zu ermöglichen. Dabei werden die Edge Devices nicht mehr umständlich verkabelt, sondern über 5G-Technologie drahtlos vernetzt.
Eine zukünftige Industrie 4.0-Fabrik muss in einer Many-Cloud Architektur laufen und aus Gründen der technischen Souveränität auch immer auf föderierte Edge-Clouds ausweichen können, wenn dies aus Sicherheitsgründen oder politischen Gründen geboten erscheint.
Um die Interoperabilität der Vielzahl der vernetzten Module in Industrie 4.0 zu ermöglichen sind nun internationale Standards und Normen für die neuen KI-Komponenten dringend notwendig. Unter meiner Leitung haben wir nun zusammen mit DIN und DKE im Auftrag der Bundesregierung die weltweit erste KI-Normungsroadmap abgeschlossen, die im November veröffentlich wird. Normen und Standards sichern den globalen Marktzugang und können auch für kleine und mittlere Unternehmen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil darstellen.
Wie hat sich der globale Wettbewerb um die Märkte für Industrie 4.0 entwickelt?
Deutschland ist immer noch der wichtigste Fabrikausrüster der Welt, wenn es um höchste Qualitätsansprüche und Innovation geht. Europa hat insgesamt bei Industrie 4.0 noch einen Vorsprung von 2-3 Jahren gegenüber China, Japan und den USA auf diesem Gebiet. Dazu trägt auch die gute Zusammenarbeit in Europa mit den deutschen Pionieren der Industrie 4.0 bei. Ein exzellentes Beispiel ist Tschechien, wo Prof. Marik und sein Team sehr früh und sehr konsequent auf Industrie 4.0 gesetzt haben. Mit seiner international anerkannten Expertise auf dem Gebiet der holonischen Multiagentensysteme hat er auch fundamental zur Realisierung der neuen verteilten und Service-orientierten Produktionsarchitekturen beigetragen. Die Tschechisch Technische Universität Prag (CTU) ist mit CIIRC heute eines der wichtigsten Exzellenzzentren für Industrie 4.0 mit einem ausgezeichneten Anwendungsumfeld in tschechischen Fabriken. Die Kooperation zwischen DFKI und CIIRC sowie mit INRIA in Frankreich, TNO in den Niederlanden, den DTx CoLabs in Portugal und FBK-ITC in Trento hat dafür gesorgt, dass Europa bei Industrie 4.0 der Leitanbieter und Innovationstreiber bleibt. Unser gemeinsames EU-Projekt RICAIP ist ein internationaler Leuchtturm der Industrie 4.0.
Hat die Corona-Krise auch relevante Erkenntnisse für Industrie 4.0 ergeben?
Ja, es wurde sehr klar, wie rasch globale Lieferketten in einer Pandemie zerbrechen können.
Damit wird der Aspekt der Resilienz von Lieferketten in Zukunft viel wichtiger. Hierzu können KI-basierte Werkzeuge zu Echtzeitüberwachung der Stabilität von Lieferketten und zur intelligenten Umplanung in der Logistik einen wesentlichen Beitrag leisten. Wir konnten am DFKI für mehrere große Hersteller in Deutschland eine Überwachung und Umplanung bei chinesischen Zulieferern implementieren, die den Schaden durch Corona-bedingte Produktionsausfälle sehr stark in Grenzen hielt.
Was raten Sie jungen Studierenden der Technikwissenschaften?
Mit einem Studium an der CTU haben Sie beste Zukunftschancen, wenn Sie sich auf die industrielle KI spezialisieren. Es wird in den nächsten 10-20 Jahren weiterhin eine große Nachfrage im industriellen und akademischen Bereich auf diesem Sektor geben. Durch die renommierten CTU-Lehrstühle in der Robotik, dem Maschinellen Lernen, der Mechatronik, der Sensorinterpretation und der Multiagentensysteme, des Internet der Dinge und der Software-Technologien sind hier die besten Ausgangsbedingungen für ein interdisziplinäres Studium der industriellen KI auf Weltklasseniveau gegeben.
Das Interview ist zuerst in der Herbst-Ausgabe 2020 des Magazins TecniCall erschienen.
Die Fragen stellten Eva Doležalová und Tilman Becker, RICAIP - Research and Innovation Centre on Advanced Industrial Production.