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Zehn Jahre Industrie 4.0

| Industrie 4.0

Deutsche IT-Fachleute erdachten zur Hannover Messe im Jahr 2011 einen Begriff, der sich rund um die Welt etablierte und inspirierte. Nun ziehen sie Zwischenbilanz – und unterbreiten eine Vision, wie das weitergeht. Von Henning Kagermann und Wolfgang Wahlster

Prof. Kagermann, Prof. Wahlster, HANNOVER MESSE 2015

Unser initialer Artikel „Industrie 4.0: Mit dem Internet der Dinge auf dem Weg zur 4. industriellen Revolution“ erschien am 1. April 2011 kurz vor der Eröffnung der Hannover Messe. Das Konzept hatten wir zusammen mit Wolf-Dieter Lukas formuliert, der heute als Staatssekretär im Bundesforschungsministerium von der beratenden auf die aktiv gestaltende Seite der Politik gewechselt ist. Unter dem Eindruck der Finanzkrise wollten wir damals über Wandlungsfähigkeit und Ressourceneffizienz die deutsche Wirtschaft mit ehrgeizigen Zukunftsprojekten widerstandsfähiger und wettbewerbsfähiger machen. Unsere Hauptidee war, reale und virtuelle Räume in sogenannten cyberphysischen Produktionssystemen zu koppeln, um damit für die nächste Generation von Fabriken Digitalisierungsfortschritte zu nutzen, die wir beim Internet der Dinge und Dienste und in den industriellen Anwendungen von Künstlicher Intelligenz schon gemacht hatten. Das war technologisch interessant, hätte aber nur in Fachkreisen Wirkung erzielt. Unser Begriff „Industrie 4.0“ hat die Zielsetzung auf den Punkt gebracht.

Wir bekamen starke politische Unterstützung. Bundeskanzlerin Angela Merkel griff die neue Wortmarke „Industrie 4.0“ schon am 3. April spontan in ihrer Eröffnungsrede zur Hannover Messe 2011 auf. Aber auch aus der Wirtschaft, den Gewerkschaften und, ganz wichtig, von Vertretern anderer Industriestaaten. Von erheblicher Bedeutung war, dass wir uns auf den Wirtschaftsbereich konzentrierten, der Deutschland erfolgreich durch die Weltfinanzkrise 2008 gebracht hatte: die produzierende Industrie. Unsere Behauptung, dass es sich dabei um die vierte industrielle Revolution handelt, erregte viel Aufmerksamkeit.

Der Begriff „Industrie 4.0“ hat sich viral ausgebreitet und wird heute auf der ganzen Welt wie „Kindergarten“ und „Autobahn“ mit Deutschland assoziiert. Industrie 4.0 ist ein Exportschlager, der in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik rund um den Globus Aufmerksamkeit und Anerkennung erfahren hat. Damit haben wir in der Hightech-Welt erstmals wieder ein innovatives Konzept aus Deutschland international etablieren können, nachdem diese über viele Jahre meist aus Amerika oder Asien kamen.

Die Skizze war da. Die Vernetzung von Menschen, intelligenten Objekten und Maschinen, die Nutzung serviceorientierter Architekturen, die Komposition von Diensten und Daten aus unterschiedlichen Quellen zu neuen Geschäftsprozessen eröffnet Chancen. Industrie 4.0 ist die Basis für datenbasierte Wertschöpfung, innovative Geschäftsmodelle und Organisationsformen, aber auch für neue Lösungen in Bereichen wie Energie, Gesundheit und Mobilität. Die Vision überzeugte, weil sie für Wirtschaft und Gesellschaft erheblichen Fortschritt versprach. Ökonomisch ging es initial um einen Wechsel von der traditionellen Automatisierung mit vorherbestimmtem Ergebnis hin zu lernenden und sich selbst anpassenden Maschinen und Umgebungen, die in Echtzeit auf Änderungen der Kundennachfrage sowie auf unerwartete Störungen reagieren. Damit einher geht der Schritt von der Massenproduktion zur Maßanfertigung, zur preislich konkurrenzfähigen Herstellung von individuellen, maßgeschneiderten Produkten.

Gesellschaftlich lag der Fokus auf sozialpartnerschaftlicher Umsetzung. Deshalb waren Gewerkschaften in den gesamten Prozess eng eingebunden und haben konstruktiv mitgewirkt. Wichtig war das Versprechen von einer besseren und sinnvolleren Mensch-Maschine-Kooperation ohne Angst vor Kontrollverlust, die Schaffung von Arbeitsplätzen durch „Nearshoring“ und die Inklusion von älteren und behinderten Menschen, unterstützt durch physische und kognitive Werkerassistenzsysteme. Ökologisch war von Anfang an die Ressourcen- und Energieeffizienz ein zentrales Ziel: Industrie 4.0 hat das Potential, eine Kreislaufwirtschaft zu etablieren, die Wirtschaftswachstum von Ressourcenverbrauch entkoppelt. Industrie 4.0 stellt den Menschen in den Mittelpunkt, und dazu gehören die gesellschaftliche und natürliche Umwelt.

Der Erfolg des Konzepts Industrie 4.0 hat maßgeblich mit der breiten Unterstützung der tragenden Säulen unserer Gesellschaft zu tun. Wir haben gezeigt, dass wir gemeinsam internationale Trends setzen können, wenn wir unsere Kräfte in Wirtschaft, Wissenschaft, Gewerkschaften und Politik wirksam bündeln und über eine entsprechende Plattform institutionalisieren. Industrie 4.0 hat Maßstäbe gesetzt, wie schnell sich ein zunächst in der Spitzenforschung entstandenes Konzept aus den Unternehmen und den Industrieverbänden heraus entwickeln und durch die aktive Begleitung und Unterstützung der Gewerkschaften zum Erfolg für den Wirtschaftsstandort und den Innovationsstandort Deutschland führen kann. Heute steht Industrie 4.0 oben auf der Tagesordnung der Bundespolitik – in den vergangenen zehn Jahren haben sich mehr als 1000 Projektkonsortien, 10000 Konferenzen und 100000 Publikationen mit der technisch-wissenschaftlichen Umsetzung dieser Idee beschäftigt.

Das Internet der Dinge und darauf aufsetzende cyberphysische Systeme sind in modernen Fabriken heute Realität. Die Konnektivität zwischen Maschinen, Werkzeugen, Werkstücken und Facharbeitern hat auch in Bestandsfabriken große Fortschritte gemacht. Das Retrofitting geht stetig voran, also die digitale Aufrüstung mit neuen preiswerten Sensoren und deren drahtlose Anbindung. Immer mehr Produktionsschritte können durch Multisensor-Fusion in Echtzeit überwacht werden, etwa zur Qualitätskontrolle. Über seinen digitalen Zwilling steuert das entstehende Produkt die eigene Fertigung. Wie auf einem Markplatz wählt es die zum Kundenwunsch passenden Produktionsdienste über die digitalen Zwillinge der vernetzten Fertigungsanlagen aus.

Heute gibt es etliche „Smart Factories“, die Grundprinzipien von Industrie 4.0 umsetzen: „Plug & Produce“ und die virtuelle Inbetriebnahme neuer Anlagenteile durch den Einsatz digitaler Zwillinge, taktunabhängige Matrix-Produktionsarchitekturen mit konfigurierbaren Produktionszellen und kurzen Umrüstzeiten auch für kleinste Losgrößen mit großem Produktindividualisierungsgrad, variable Intralogistik kombiniert mit Echtzeitproduktionsplanung sowie lokationsbasierte Dienste für alle Werker, Betriebsmittel und die entstehenden Produkte. Die Positionsbestimmung in Fabrikhallen ist für mobile Systeme wie autonome Gabelstapler mit Hilfe KI-basierter visueller SLAM-Verfahren stark verbessert worden, SLAM steht dabei für „Simultaneous Localization and Mapping“. Durch GPU-Computing, die hochparallele Ausführung neuronaler Verfahren auf sehr leistungsfähigen Grafikkarten, wurde die notwendige Erkennung von Landmarken signifikant verbessert, um eine freie Navigation mobiler Roboter zu ermöglichen.

Nach den Erfahrungen in der Pandemie müssen wir Lösungen erarbeiten, um Risse in Lieferketten oder den Produktionsstopp durch kurzfristige Personalengpässe zu vermeiden. Hier können „Homeoffice“-Technologien kaum helfen. Benötigt werden vielmehr sogenannte „Home Workbenches“, welche die mobile Steuerung, Wartung und Reparatur von Fabrikanlagen als Softwarelösungen mit Fernzugriff auf cyberphysische Systeme bis hin zur Tele-Operation mit physischen Avataren ermöglichen.

Was kommt als Nächstes? Im vergangenen Jahr haben Experten der „Plattform Industrie 4.0“ die Vision für Industrie 4.0 bis zum Jahr 2030 entwickelt mit der Überschrift: „Digitale Ökosysteme global gestalten“. Wir müssen die Interoperabilität und die internationale Zusammenarbeit in offenen Ökosystemen weiter vorantreiben. Sechs neue Megatrends werden die Entwicklung der kommenden 10 Jahre entscheidend beeinflussen: die industrielle KI, das Edge-Computing bis hin zur Edge-Cloud, 5G in der Fabrik, die Team-Robotik, autonome Intralogistik-Systeme sowie vertrauenswürdige Dateninfrastrukturen, wie sie mit der Initiative Gaia-X angestrebt werden.

Mit der industriellen KI wird eine zweite Welle der Digitalisierung der Produktion möglich. Die erste Welle, die alle Daten der Produktion und der Lieferketten digital und mobil über Cloud-Systeme verfügbar macht, ist weitestgehend abgeschlossen. Diese Daten können durch KI-Systeme nun in Echtzeit analysiert und im Kontext interpretiert werden, so dass sie aktiv für neue Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle nutzbar sind. Mit digitalen Trainingsdaten für maschinelle Lernsysteme können KI-Systeme nicht nur zur schon weitverbreiteten vorausschauenden Wartung eingesetzt werden, sondern immer mehr zur inkrementellen Qualitätskontrolle meist über Videosensorik. Damit wird in der nächsten Phase von Industrie 4.0 eine KI-basierte Null-Fehler-Produktion angestrebt. Selbstlernfähigkeit und modulare Langzeit-Autonomie werden die neue Generation von „Smart Factories“ auszeichnen und neben einer extremen Flexibilität auch eine äußerst robuste Produktion, hohe Arbeitssicherheit, Energieeffizienz und ein hohes Maß an Ressourcenschonung garantieren. Eine fähigkeitsorientierte Produktionsarchitektur sichert die Erweiterbarkeit und Wandlungsfähigkeit auf der nächsten Stufe von Industrie 4.0, um rasch auf Volatilität auf den Märkten reagieren zu können.

In 5G-Campusnetzen können Edge-Devices mit der hohen Bandbreite und garantiert geringer Latenzzeit von 5G zu einer lokalen Edge-Cloud zusammengeschaltet werden, die dann den Echtzeitanforderungen in der Fabrik genügt. Hybride Teams von Werkern und kollaborativen Robotern mit verschiedenen Fähigkeiten führen zu einer neuen Form der Team-Robotik, in der Mensch-Maschine-Interaktion unter Führung des menschlichen Fachpersonals im Mittelpunkt steht, welches Hand in Hand mit Robotern zusammenarbeitet, um im Team komplexe Fertigungsaufgaben zu lösen. Bei den Dateninfrastrukturen müssen die Anforderungen der jeweiligen Branche bezüglich Datenhoheit, Dezentralität in heterogenen Multicloud-Systemen und Edge-Support berücksichtigt werden.

Wir streben eine nachhaltige Ökonomie an. Wir wollen auch Souveränität als Selbstbestimmung auf allen Ebenen. In einer vernetzten Wirtschaft bedeutet Selbstbestimmung vor allem die Freiheit, die Technologie der Wahl, den Geschäftspartner der Wahl oder den Ort der Wahl selbst bestimmen zu können – insbesondere den Ort, an dem Daten gespeichert und gemäß der dort gültigen Rechtsordnung verarbeitet werden. Eine mögliche Antwort ist Gaia-X, eine vernetzte Dateninfrastruktur für offene Zusammenarbeit und technologische Souveränität, offen für alle Geschäftspartner, solange sie die europäischen Werte unterstützen.

Die meisten Herausforderungen von Industrie 4.0 sind grenzüberschreitend und erfordern internationale Zusammenarbeit. Wir müssen gleichzeitig unsere digitale Souveränität garantieren und unser Wissen, unsere Erfahrungen und unsere besten Praktiken stärker international teilen. Andere Länder werden in manchen Fällen verschiedene Lösungen favorisieren, aufgrund unterschiedlicher politischer Systeme oder kulturell bedingt anderer Problemlösungsansätze. Aber unsere Antwort kann nur Selbstbestimmung und offene Zusammenarbeit auf der Basis unserer eigenen Werte sein.

Die Potentiale von Industrie 4.0 sind noch lange nicht ausgereizt. Wir dürfen deshalb bei Forschung und Innovation für die nächste Phase dieser vierten industriellen Revolution nicht nachlassen. Wir müssen besonders in die industrielle KI als zweite Welle der Digitalisierung investieren. Dabei spielt die Interoperabilität der Software- und Hardwarekomponenten eine entscheidende Rolle, besonders um den internationalen Marktzugang für deutsche Mittelständler und Start-ups, aber auch um die technologische Souveränität Europas zu sichern. Standards, Normen und Zertifikate sind entscheidende Treiber für interoperable Lösungen. Hier müssen wir in Deutschland eine Vorreiterrolle mit exportfähigen Produkten übernehmen, die aufgrund der Vertrauenswürdigkeit und Transparenz der verwendeten KI-Technologien sowie der Sicherheit und der Resilienz der Lösungen eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz garantieren. Die erste umfassende KI-Normungsroadmap, die im Dezember 2020 vorgestellt wurde, war dafür ein wichtiger Impuls. Letztlich müssen wir als führender Industrieausstatter die Balance anstreben zwischen einer höheren digitalen Souveränität auf der einen Seite und vertrauenswürdigen und widerstandsfähigen Lösungen für globale Märkte auf der anderen Seite.

Für die Zukunft der industriellen Wertschöpfung ist auch in der nächsten Legislaturperiode die enge Kooperation auf der Ebene von Verbundprojekten und Plattformen dringend notwendig. Für die zweite Halbzeit von Industrie 4.0 brauchen wir neben technikwissenschaftlichen Innovationen weiterhin die Unterstützung der Politik, der Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft, um dauerhaft die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Früchte der von Deutschland ausgegangenen vierten industriellen Revolution ernten zu können.

Professor Dr. Henning Kagermann war Vorstandssprecher von SAP und Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech). Professor Dr. Wolfgang Wahlster leitete das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI).

Der Artikel erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 29.03.2021.

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