Prof. Dr. Verena Wolf ist seit 1. Januar 2023 Leiterin des neuen Forschungsbereichs Neuro-mechanistische Modellierung am DFKI Saarbrücken. Sie ist Professorin für Informatik an der Universität des Saarlandes (UdS) und hat dort den Lehrstuhl für Modellierung und Simulation inne. Verena Wolf war maßgeblich daran beteiligt, dass Informatik in allen Schulformen im Saarland ab Klasse 7 Pflichtfach werden konnte.
Prof. Dr. Antonio Krüger ist seit November 2019 Vorsitzender der Geschäftsführung des DFKI, leitet als wissenschaftlicher Direktor den DFKI-Forschungsbereich Kognitive Assistenzsysteme, hat 2010 den Studiengang Medieninformatik an der Universität des Saarlandes etabliert und ist bis heute für diesen verantwortlich. Er war Mitglied der Enquete-Kommission Künstliche Intelligenz des Deutschen Bundestags.
Welchen Ansatz verfolgt der neue Forschungsbereich zur neuro-mechanistischen Modellierung?
Verena Wolf: Die neuro-mechanistischen Modellierung steht für Forschungsansätze, in denen wir Modelle verschiedener Art miteinander kombinieren, um mit einem hybriden Ansatz die unterschiedlichen Stärken der beteiligten Modellklassen zu nutzen: Daten-getriebene Modelle, die auf künstlichen neuronalen Netzen basieren, und klassische mechanistische Modelle, mit denen wir mechanistische Hypothesen beschreiben und Domänenwissen einbringen.
Antonio Krüger: Neuro-mechanistisches Modellieren orientiert sich an zwei Paradigmen der KI-Forschung. Dabei geht es im Kern darum, das „Netzmäßige“ der künstlichen neuronalen Netze mit dem „Gesetzmäßigen“ der expliziten Modellierung so zu verbinden, dass die resultierenden Anwendungen von dem Besten der beiden Welten profitieren können. Künstliche neuronale Netze ermöglichen die Identifikation von Mustern in den jeweils überkomplexen Gegenstandsbereichen; explizite Wissensmodelle leisten Beiträge zur Nachvollziehbarkeit und erlauben belastbare Aussagen über Verlässlichkeit.
Stichwort Modelltypen, was bedeutet Modellieren im informatischen Sinn?
Verena Wolf: Darunter versteht man die mathematische Beschreibung von realen oder erdachten Systemen basierend auf Hypothesen über die mechanistischen Zusammenhänge zwischen den messbaren Größen.
Wie passen Prof. Wolfs wissenschaftliche Arbeiten in die Forschungslandschaft des DFKI?
Antonio Krüger: Der neuro-mechanistische Ansatz von Verena Wolfs Forschungen ist domänenoffen, schärft das Forschungsportfolio des DFKI und stärkt die DFKI-Kompetenz in hybrider KI, d.h. in der Kombination von modellbasierten und subsymbolischen Verfahren.
Für welche Anwendungsgebiete ist dieser Forschungsansatz besonders vielversprechend?
Verena Wolf: Überall dort, wo Domänenwissen in expliziter Weise vorliegt – wie beispielsweise in den Lebenswissenschaften – und die Generierung von sehr großen Datenmengen teuer oder unmöglich ist. Wenn wir z.B. neue Wirkstoffe mit Hilfe von KI entwickeln möchten, können wir vorhandenes Wissen über chemische Verbindungen und Moleküleigenschaften direkt als explizite Regeln integrieren. Das muss nicht jedes Modell neu lernen. Die zentrale Frage ist: Wie bringen wir das schon etablierte Wissen in den maschinellen Lernprozess ein?
Auf welche anderen Domänen sind neuro-mechanistische Modelle anwendbar?
Verena Wolf: Auch im Bereich der Produktion und Logistik lassen sich mechanistische und datengetriebene Ansätze kombinieren. In vielen Bereichen haben wir Digitale Zwillinge, die auf verschiedene Weise mit KI-Modellen kombinierbar sind, z.B. indem wir die Zusammenhänge bestimmter Größen durch neuronale Netze darstellen oder die optimale Steuerung eines komplexen Systems datengetrieben lernen. MoDigPro zum Beispiel war ein konkretes Projekt. Hier haben wir eine KI zur Produktionssteuerung in einem Automobilwerk entwickelt und konnten dadurch eine störungsfreie kontinuierliche Produktion erreichen.
Wo liegen die Herausforderungen?
Verena Wolf: Bisher haben wir hauptsächlich mit sehr einfachen Arten der Kopplung verschiedener Modelltypen gearbeitet. Es ist sehr schwierig und forschungsintensiv, für eine gegebene Anwendung ein optimales Hybrid-Modell zu entwerfen, da es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, mechanistische und neuronale Modelle zu kombinieren.
Wie passen die anwendungsorientierten Aspekte dieser Forschung ins Transferökosystem des DFKI?
Antonio Krüger: Unser Transferökosystem aus Industriekooperationen, Living Labs, TransferLabs und dem Weiterbildungsformat DFKI-Academy bündelt KI-Technologien an der Nahtstelle des Praxiseinsatzes. Die Frage nach der Lösung eines konkreten Problems, z.B. aus der Produktion, wurde in der Vergangenheit oft mit der Empfehlung entweder für ein modellbasiertes oder ein datengetriebenes Verfahren beantwortet – je nachdem welches für den jeweiligen Einsatzbereich die wenigsten Unzulänglichkeiten aufwies. Mit Verena Wolfs Ansatz der Verbindung beider Modelltypen haben wir eine weitere hybride Herangehensweise im Portfolio, die in der produzierenden Industrie oder im Dienstleistungssektor angewandt werden kann.
Professor Wolf, Sie haben eine Methode entwickelt, mit der Sie Vorgänge im Inneren von Zellen viel detaillierter beschreiben können, als dies vorher der Fall war. Dafür wurden Sie 2013 mit dem Innovatoren-Preis der Technology Review geehrt. Was ist das Besondere an der von Ihnen entwickelten Vorgehensweise?
Verena Wolf: Wir entwickelten zu der Zeit einen Ansatz, um die chemischen Reaktionen in Zellen auf verschiedenen Abstraktionsebenen zu beschreiben und entsprechend miteinander zu koppeln. Man kann sich das so vorstellen, dass besonders wichtige Bereiche des Systems quasi in höherer Auflösung betrachtet bzw. modelliert werden.
Warum ist dieser Ansatz hier überlegen und woran forschen Sie zurzeit?
Verena Wolf: Wenn man alle Teile des Systems sehr detailliert modelliert, wird das entsprechende Modell zu komplex. Nutzt man eine abstrakte Beschreibung, wird es zu ungenau. Kombinierte Modelle beschreiben nur bestimmte Teile eines Systems sehr detailreich und können die grobe Dynamik anderer, abstrakterer Teilsysteme korrekt miteinander in Beziehung setzen. Aktuell arbeite ich u.a. an neuro-mechanistischen Modellen für die Wirkstoffentwicklung. Dabei geht es z.B. darum, Eigenschaften von bestimmten Molekülen anhand ihrer Struktur vorherzusagen. Durch solche Computersimulationen können zeit- und kostenintensive Arbeitsschritte in der Wirkstoffentwicklung ersetzt oder zumindest deutlich vereinfacht werden. Um diese Verfahren in die Anwendung zu bringen, möchte ich sehr bald entsprechende DFKI-Projekte starten.
Sie leiten außerdem das Informatik-Schülerlabor InfoLab an der UdS und haben sich dafür eingesetzt, dass Informatik ab Klasse 7 Pflichtfach an saarländischen Schulen wird. Über welche Kompetenzen sollten die Schulabgänger verfügen?
Verena Wolf: Kinder müssen die grundlegenden Funktionsprinzipien der digitalen Welt verstehen. Dadurch können sie sich kompetenter in dieser Welt bewegen und insbesondere ihre Chancen und Risiken besser verstehen. Dazu gehört z.B. das Wissen, wie Informationen in einem Computer abgespeichert und verarbeitet werden, und wie sie sicher verschlüsselt oder über Datennetze versendet werden können. Schülerinnen und Schüler sollten algorithmisches Denken lernen, d.h. Probleme durch Algorithmen lösen und ihre Ideen auch mit Computerprogrammen umsetzen können. Auch ein Verständnis von Künstlicher Intelligenz sollte spätestens am Ende der Mittelstufe vorhanden sein, denn KI-Systeme begegnen jungen Menschen inzwischen überall im Alltag.
Und wie fördert das DFKI junge Menschen in der Informatik?
Antonio Krüger: Das DFKI engagiert sich bereits seit vielen Jahren in MINT-Mentoring-Programmen, unterstützt die Initiative MINT Zukunft schaffen und stellt mit Unternehmenssprecher Reinhard Karger einen saarländischen MINT-Botschafter. Wir öffnen regelmäßig unsere Türen und laden Schulklassen zu Informationsbesuchen ein, wobei wir einen Fokus auf die Anwendungsperspektive der gezeigten Technologien legen und den jungen Menschen einen Einblick in informatik-nahe Tätigkeitsfelder über das Programmieren hinaus bieten. Mit dem kostenfreien Weiterbildungsangebot KI-Campus unterstützen wir aber auch den Aufbau von allgemeiner KI-Kompetenz.
Was raten Sie jungen Menschen, die eine berufliche Laufbahn in der Informatikforschung einschlagen wollen?
Verena Wolf: Interessierte sollten sich vor einer Einschreibung in das Bachelorstudium über die Anforderungen und die verschiedenen informatik-nahen Studiengänge informieren. Neben dem klassischen Informatik-Bachelor bietet die Universität des Saarlandes auch spezialisiertere Programme an, wie z.B. den Studiengang Data Science & Artificial Intelligence oder auch die Bio- oder Medieninformatik.
Was müssen diese mitbringen?
Verena Wolf: Vorkenntnisse in Informatik sind nicht nötig. Viel wichtiger ist eine gute Arbeitshaltung, denn ein Informatikstudium ist gerade in den ersten Semestern sehr arbeitsintensiv und braucht eine gute Selbstorganisation. Studierenden mit einem guten Mathematikverständnis fallen gerade die ersten Semester häufig leichter.
Aus Schülerinnen und Schülern werden Studierende. Welche Karrierechancen bietet das DFKI jungen Absolventinnen und Absolventen?
Antonio Krüger: Die zunehmende Digitalisierung der Industrie hat zu einem deutlich höheren Bedarf an Managern mit fundiertem Informatik-Hintergrund geführt. Über eine Karriere als Software-Entwickler oder -Entwicklerin hinaus bahnt das DFKI den Weg zur Promotion, in die Forschungsabteilungen und Führungsetagen der Industrie oder in die Ausgründung. Junge Kolleginnen und Kollegen mit einem Abschluss in Informatik oder einer Informatik-Kombination können am DFKI von Anfang an in Projekten mit klarer Zielsetzung, oft mit Industriebezug, mitarbeiten. Außerdem ist das DFKI Partner im Software-Campus, einem Programm, das IT-Spezialistinnen und -Spezialisten für Führungsaufgaben qualifiziert.
Frau Wolf, haben Sie einen besonderen Ratschlag für Mädchen und junge Frauen?
Verena Wolf: Mädchen haben oft ein falsches Bild von der Informatik bzw. der Arbeit als Informatikerin. Man darf sich von Vorurteilen, die auf einem „Nerd Image“ basieren, nicht beeinflussen lassen. Als Informatik-Kundige hat man die Chance, die digitale Welt mitzugestalten. Man kann in zahlreichen Anwendungsbereichen gesellschaftlich enorm relevante Beiträge leisten und hat eine sehr gut bezahlte und abwechslungsreiche Arbeit, bei der Kreativität und Teamgeist gefragt sind.
Frau Wolf, Herr Krüger, vielen Dank für das Interview!