Publikation
Hybride Wertschöpfung - Mobile Informationssysteme zur Integration von Produktion und Dienstleistung
Oliver Thomas; Peter Loos; Markus Nüttgens
ISBN 978-3-642-11854-8, Springer, 2010.
Zusammenfassung
Produzierende Unternehmen erwirtschaften zunehmend größere Anteile Ihrer Umsätze und Erträge mit komplementären Dienstleistungen. Nicht zuletzt die Wirtschafts-und Finanzkrise rückt die Bedeutung dieser Dienstleistungsanteile ins Scheinwerferlicht. Überkapazitäten, stagnierende Absatzzahlen, eine verschärfte Konkurrenz auf den Weltmärkten und eine zunehmende Standardisierung und Qualitätsangleichung lassen kaum noch Differenzierungsstrategien zu - der Wettbewerb wird produktbezogen primär über den Preis geführt.
Dienstleistungen werden in einer solchen Konstellation zum zentralen Ansatzpunkt einer nachhaltigen Wettbewerbs- und Wachstumsstrategie. Einerseits sichern produktbezogene Dienstleistungen einen kontinuierlichen Umsatz auch oder gerade in Phasen mit hohen Absatzschwankungen. Andererseits wächst bei sinkenden Produktmargen der relative Wertschöpfungsanteil komplementärer Dienstleistungen.
Produktbezogene Dienstleistungen werden so zum entscheidenden Differenzierungsmerkmal und Katalysator hybrider Wertschöpfungskonzepte. Hierbei verschmelzen der (materielle) Produktkern und der komplementäre Dienstleistungsanteil zunehmend zu einem komplexen Wertschöpfungsbündel, welches - je nach Ausbaustufe - mehr oder minder ganzheitlich vermarktet wird. Hieraus resultieren
Anforderungen an Finanzierungs- und Geschäftsmodelle sowie veränderte Rechts- und Eigentumsverhältnisse. Verkaufte beispielsweise bislang ein Produzent von Heiztechnik komplexe technische Anlagen, so könnte er morgen zum Betreiber dieser Anlagen oder gar Lieferant von "Wärme" werden und diese bedarfsbezogen abrechnen. Der Lebenszyklus eines Produkts - von der Forschung und Entwicklung über die Produktion bis hin zum Betrieb - rückt damit zusammen mit der Kundenzufriedenheit in den Vordergrund.
War bislang der Produktkern eine notwendige Bedingung zum Markterfolg, so sind es zukünftig der Dienstleistungskern und die Kundenschnittstelle. Eine zentrale Rolle spielen dabei Informationssysteme zur Integration von Produktion und Dienstleistung, da nur mit ihrer Hilfe die traditionellen lösungsorientierten und produktionsnahen Sichtweisen in problemorientierte und kundennahe Strukturen
überführt werden können. Je nach Ausgestaltung der Anwendungsszenarien sind dabei mobile, multimediale und vernetze Endgeräte der technische "Enabler" - sie verändern die Arbeitsweise der Dienstleistungserbringer nachhaltig.
Im Rahmen des Forschungsprojekts PIPE (das Akronym steht für "Hybride Wertschöpfung im Maschinen- und Anlagenbau" Prozessorientierte Integration von Produktentwicklung und Servicedokumentation zur Unterstützung des technischen Kundendienstes), das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Förderkonzepts "Innovation mit Dienstleistungen" und des Programms "Rahmenkonzept Forschung für die Produktion von morgen" gefördert wurde (Förderkennzeichen: 01FD0623), wurde ein solches Informationssystem zur mobilen und internetbasierten Unterstützung des technischen Kundendienstes (TKD) im Maschinen- und Anlagenbau entwickelt. Das System stellt TKD-Mitarbeitern Serviceinformationen strukturiert und interaktiv zur Verfügung.
Im Mittelpunkt steht dabei der Lebenszyklus der Gesamtleistung, die der Kunde erhält, d. h. sowohl die Anlage als auch die Services. Hierzu sind in einer Zusammenarbeit zwischen Herstellern, spezialisierten Dienstleistungsunternehmen und TKD-Anwendern prozessorientierte Serviceinformationen bereitzustellen, zu nutzen und kontinuierlich zu verbessern. Die entsprechenden Dienstleistungen werden
mit der technischen Produktentwicklung integriert, so dass der TKD nicht nur ein rein technisches, sondern ein hybrides Produkt erhält, das die Sicherung des Leistungsergebnisses für den Endkunden fokussiert.
Innovativ an diesem Ansatz ist, dass durch die frühzeitige Verzahnung von Produktentwicklung, Dokumentation, TKD, Prozessberatung und moderner Informations- und Kommunikationstechnologie ein hybrides Produkt entsteht, welches die Erstellung integrierter prozessorientierter Produkt- und Serviceinformationen beim Hersteller erstmals mit vertretbarem Aufwand ermöglicht. Serviceorganisationen
können auf diese Informationen mobil zugreifen. Die Informationen über durchgeführte TKD-Arbeiten werden wieder zum Anlagenhersteller zurückgeführt und fließen dort in die Weiterentwicklung sowohl der Produkte als auch der Serviceprozesse ein. In unterschiedlichen Geschäftsmodellen können sich die Anwender des PIPE-Systems an der Zusammenarbeit hinsichtlich der Weiterentwicklung von
Produkt und Serviceprozessen beteiligen. Dieses Partizipationsmodell ist ein zentraler Punkt, der den Innovationscharakter des PIPE-Ansatzes unterstreicht. Das Potenzial des Systems ist an realen Fallbeispielen aus dem Bereich der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik erprobt worden.
Der vorliegende Herausgeberband Hybride Wertschöpfung - Mobile Informationssysteme zur Integration von Produktion und Dienstleistung fasst die Ergebnisse des Forschungsprojekts PIPE zusammen und gibt zugleich einen Überblick über den State-of-the-Art der Gestaltung hybrider Leistungsbündel. Dabei werden sowohl aktuelle Problemstellungen und Lösungsansätze als auch zukünftige Entwicklungsperspektiven
betrachtet. Die einzelnen Kapitel fokussieren einerseits die Produktion und den Absatz hybrider Produkte und andererseits Informationssysteme, welche die Produktion und den Absatz hybrider Produkte unterstützen.
Der Aufbau des Herausgeberbandes folgt einer Fünfteilung des Gegenstandsbereichs. Im ersten Teil des Bandes Grundlagen und Anwendungsszenarien stellen Oliver Thomas, Philipp Walter, Peter Loos, Michael Schlicker und Markus Nüttgens die zentrale Fallstudie des Buches vor. Philipp Walter erweitert das Blickfeld einerseits mithilfe einer Einordnung und Klassifikation technischer Kundendienstleistungen
und andererseits durch eine an der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnikbranche ausgerichtete empirische Untersuchung zu den Arbeitsformen und der IT-Unterstützung im technischen Kundendienst. Im zweiten Teil Methoden und Modelle widmen sich Oliver Thomas, Philipp Walter und Peter Loos der Konstruktion und Anwendung der Entwicklungsmethodik für Product-Service Systems, die zur Implementierung des PIPE-Informationssystems herangezogen wurde. Mit einem State-of-the-Art-Beitrag zu Vorgehensmodellen des Product-Service Systems Engineering erweitern Marc Gräßle, Oliver
Thomas und Thorsten Dollmann das Blickfeld um eine ingenieurwissenschaftliche Perspektive und ordnen die zuvor gestaltete Entwicklungsmethodik in einen Gesamtzusammenhang
ein. Die im Rahmen der hybriden Wertschöpfung relevanten und in der Praxis einzusetzenden Lebenszyklusmodelle werden von Nadine Blinn, Markus Nüttgens, Michael Schlicker, Oliver Thomas und Philipp Walter präsentiert.
Michael Schlicker, Nadine Blinn und Markus Nüttgens zeigen auf, wie Modellierungssprachen zur Erfassung, Dokumentation und Erstellung von technischen Serviceprozessen als Bestandteile hybrider Leistungsbündel entwickelt werden können und verdeutlichen deren Einsatz anhand der PIPE-Fallstudie. Im dritten Teil Werkzeuge und IT-Unterstützung untersuchen Oliver Thomas und Julian Krumeich die durch integrierte Informationssysteme generell erreichbare Unterstützung technischer Kundendienstleistungen. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse überführen Michael Schlicker und Stefan Leinenbach in das im Rahmen von PIPE gestaltete Serviceportal, mit dem es möglich wird, den technischen Kundendienst mobil, multimedial und prozessorientiert mit einem adäquaten "Informations-Mix" zu versorgen.
Im vierten Teil Evaluation und Entwicklungsbegleitende Normung wird das mobile PIPE-Anwendungssystem - im Sinne des Design-Science-Forschungsparadigmas - von Nadine Blinn und Michael Schlicker evaluiert, um kritisch und für den Leser nachvollziehbar zu überprüfen, inwiefern die Nutzung des Systems die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Reparatur, Instandhaltung und Wartung
erhöht. Die aus dem Forschungsprojekt hervorgegangenen Aktivitäten zur Entwicklungsbegleitenden Normung im Kontext hybrider Wertschöpfung stellt Paul Wakke vor.
Der fünfte Teil Kooperationen und Geschäftsmodelle erweitert die vorhergehenden Überlegungen um eine Untersuchung zu IT-gestützten Wertschöpfungspartnerschaften zur Integration von Produktion und Dienstleistung im Maschinenund Anlagenbau von Philipp Walter, Nadine Blinn, Michael Schlicker und Oliver Thomas. Die aus PIPE resultierenden Geschäftsmodelle hybrider Wertschöpfung werden von Michael Schlicker, Oliver Thomas und Frank Johann aufgearbeitet.
Der Herausgeberband schließt mit dem Beitrag von Carsten Metelmann, der die Perspektive der zumeist klein- und mittelständischen Handwerksbetriebe auf die IT-Unterstützung von Instandhaltungs-, Wartungs- und Reparaturprozessen erläutert. Insgesamt haben die Diskussionen während der Laufzeit des Forschungsprojekts PIPE und nicht zuletzt bei der Zusammenstellung dieses Bandes verdeutlicht,
dass das Themengebiet Hybride Wertschöpfung stärker als bisher eine interdisziplinäre Ausrichtung erfordert. Konzepte aus der Betriebswirtschaftslehre (unter anderem Produktion, Dienstleistungsmanagement, Marketing), den Ingenieurwissenschaften (unter anderem Konstruktionslehre, Produktentwicklung) und der Wirtschaftsinformatik (unter anderem Modellierung, Dienstleistungsinformationssysteme,
mobile Anwendungen) sind in ein gemeinsames Verständnis zur Gestaltung hybrider Leistungsbündel einzuordnen. Wir hoffen, dass der Herausgeberband hierzu einen nachhaltigen Beitrag leistet.