Kulturelle und sprachliche Vielfalt sind wichtige Attribute der Europäischen Integration. Die EU arbeitet in 23 offiziellen Sprachen, aber die Gesamtzahl der auf dem Kontinent gesprochenen Sprachen inklusive der Regionalsprachen liegt bei etwa 60. Die Menge der Informationen, die für Bürger, Firmen, Verbraucher und Touristen erzeugt werden, wächst von Jahr zu Jahr. Werden Wirtschaft und Verwaltungen künftig in der Lage sein, all diese Informationen in 23 oder gar 60 Sprachen anzubieten und den Bürgern und Kunden in ihrer Muttersprache Rede und Antwort zu stehen? Geht man von 23 Sprachen aus, zwischen denen übersetzt werden muss, kommt man auf eine Zahl von 506 Sprachpaaren, bei 60 Sprachen sind es schon 3540. Natürlich können wir es uns nicht leisten, unsere sprachliche Vielfalt aufzugeben. Aber werden wir uns die Vielfalt auf Dauer leisten können?
Auf dem META-FORUM 2011 in Budapest werden Thomas Hofmann von Google Europe und Bran Boguraev von IBM USA in Hauptvorträgen über die neuesten sprachtechnologischen Entwicklungen und Pläne der IT-Giganten berichten. Einige der namhaftesten europäischen Forscher werden neue Resultate und Erfolgsgeschichten berichten. Mehrere Vorträge werden den Einsatz und die Defizite heutiger Sprachtechnologie aus Anwendersicht beschreiben, beispielsweise bei der Europäischen Kommission, der Daimler AG oder Vodafone. Am zweiten Veranstaltungstag wird der META-Preis verliehen, der herausragende Verdienste in Forschung, Technologie und Dienstleistungen für das vielsprachige Europa würdigt. Daneben werden ausgesuchte Produkte und Services mit dem META-Seal of Recognition ausgezeichnet. Parallel zur Hauptkonferenz wird eine Industrieausstellung stattfinden, in der große und kleine Betriebe ihre Produkte vorstellen. Auch mehrere europäische Forschungsverbünde werden als Aussteller erwartet. Zwei Länder, die bereits spezielle Sprachtechnologieprogramme für die Unterstützung ihrer Vielsprachigkeit ins Leben gerufen haben, sind Indien mit seinen 19 „offiziellen“ Sprachen und Südafrika mit elf Nationalsprachen. Auf dem META-FORUM werden diese Programme dem vorwiegend europäischen Publikum vorgestellt. Zwei Podiumsdiskussionen sind den Themen mehrsprachige Gesellschaften und kleinere europäische Sprachen gewidmet.
Für Menschen, Waren und Kapital hat die Europäische Integration Grenzen abgebaut. Das Internet ermöglicht den weltweiten Austausch von Information, und auch im Web ist die Sprache das Medium für die Speicherung und Weitergabe des Wissens der Menschheit. Doch das Web hat viele Sprachen, und die nicht-Englischen Inhalte nehmen heute am schnellsten zu. Die letzten Grenzen für den freien Austausch von Ideen und Gedanken sind Sprachbarrieren. Der jüngste UNESCO Bericht zur Mehrsprachigkeit betrachtet Sprachen als ein essentielles Mittel für die Ausübung von Grundrechten wie der politischen Willensäußerung, der Bildung und dem Mitwirken an gesellschaftlichen Prozessen. Engagierte Bürger entdecken die sozialen Medien des Internets für die fruchtbare Diskussion brennender sozialer Fragen wie den Umstieg auf nachhaltige Energien, die Reform der Finanzsysteme oder die Bewältigung des demographischen Wandels. Bis jetzt sind diese Dialoge jedoch durch Sprachgrenzen fragmentiert. Eine erfolgreiche europäische e-Demokratie muss diese Grenzen überwinden.
Experten erwarten von der Sprachtechnologie Lösungen zur Überwindung der Sprachbarrieren. In der Tat konnte in den letzten Jahren die maschinelle Übersetzung deutlich verbessert werden. Dennoch schreiten Forschung und Entwicklung immer noch viel zu langsam und unkoordiniert voran, um in naher Zukunft die großen Herausforderungen bewältigen zu können, die sich aus der Sprachenvielfalt unserer Gesellschaft ergeben. Technologisch gesehen ist die Mehrzahl der europäischen Sprachen ernsthaft unterversorgt. Auf dem META-FORUM 2011 wird erstmalig eine Bestandsaufnahme für 30 europäische Sprachen in Bezug auf deren Zukunftssicherheit im digitalen Zeitalter vorgestellt. Zu diesem Zweck haben Experten der jeweiligen Sprachen Weißbücher („Language Whitepapers“) erstellt. Auch wenn die Auswertung der Befunde der 30 bisher vorhandenen Weißbücher noch nicht abgeschlossen ist, sind die ersten Ergebnisse alarmierend. Beispielsweise wird die vorhandene Software zur automatischen Übersetzung für 26 der untersuchten 30 Sprachen als so unzureichend eingeschätzt, dass von einem Praxiseinsatz nicht die Rede sein kann. Aus offensichtlichen ökonomischen Gründen haben sich Forschung und Entwicklung in der Vergangenheit auf die englische Sprache konzentriert. Das führt dazu, dass sich die Verfahren auf Sprachen mit ähnlichen Eigenschaften relativ schnell anpassen lassen. Für das Deutsche mit seinem reichen Kasussystem und langen, verschachtelten Sätzen ist die Qualität systematisch viel schlechter.
META-FORUM 2011 wird von META-NET ausgerichtet, einem Exzellenznetzwerk von 47 Forschungszentren in 31 Ländern, das von der Europäischen Kommission gefördert wird. META-NET schmiedet die „Multilingual Europe Technology Alliance“ (META) - eine offene Allianz von Entwicklern und Nutzern der Sprachtechnologie aus Forschung, Industrie und öffentlicher Verwaltung. Das gemeinsame Ziel ist die Vorbereitung einer Technologieoffensive für die multilinguale europäische Informationsgesellschaft. Obwohl die Allianz erst seit November 2010 besteht, sind ihr bereits Repräsentanten von mehr als 250 Firmen und Institutionen beigetreten.
Zoran Stančič, der Stellvertretende Generaldirektor für Informationsgesellschaft und Medien in der Europäischen Kommission stellt als Eröffnungsredner klare Erwartungen an das Forum: „In der Europäischen Union haben wir die physischen Grenzen zwischen den einzelnen Ländern zum größten Teil abgebaut. Jedoch sind bis heute noch viele Barrieren übrig geblieben – unter anderem die Sprachgrenzen. Zugang zu Information in allen Sprachen ist eine notwendige Voraussetzung für die effektive Verbreitung von Produkten und Dienstleistungen und für die Einführung eines durchgängigen digitalen Binnenmarktes. Ich glaube fest daran, dass Europa seine führende Rolle im Bereich der Sprachtechnologie weiter ausbauen und Lösungen liefern kann, die der gesamten europäischen Gesellschaft und Wirtschaft zugute kommen werden. Der einzige Weg dies zu erreichen, ist eine Bündelung der Kräfte und eine starke Partnerschaft aller betroffenen Interessengruppen. Die Rolle der Sprachtechnologie in der künftigen europäischen Forschungs- und Innovationslandschaft wird stark davon abhängen, ob das Forschungsgebiet mit einer Stimme sprechen kann.“
Alle relevanten Interessengruppen des Technologiesektors werden auf dem META-FORUM vertreten sein: kleine und große sprachtechnologische Unternehmen, institutionelle Nutzer von sprachtechnologischen Anwendungen, nationale und regionale Sprachgemeinschaften, Träger von Forschungsprogrammen und die wichtigsten europäischen Forschungsorganisationen. Die Teilnehmer werden unter anderem die Leitvisionen für die geplante Technologieoffensive diskutieren, die in Expertengruppen und in einem öffentlichen Internetdialog erarbeitet wurden. Die ausgewählten innovativen Anwendungen werden sicher einmal unsere alltägliche Arbeit und unser Leben verändern. Auf der Basis einer gemeinsamen Leitvision und in einem offenen Dialog mit allen Interessengruppen wird der Technologierat der Allianz eine Strategische Forschungsagenda erarbeiten, deren Grundkomponenten auf dem META-FORUM vorgestellt und diskutiert werden sollen.
„Mit einer zugkräftigen gemeinsamen Vision, mit den richtigen Akteuren und mit einer glaubwürdigen Agenda können wir die Zukunft der europäischen Sprachen sichern und der europäischen Industrie zu einer Führungsrolle in dieser wichtigen Wachstumstechnologie verhelfen. Dabei müssten die öffentlichen Kosten für die geplante Forschungs- und Innovationsoffensive nicht höher liegen als die Ausgaben für 100 Kilometer neue Autobahn in einem der neuen EU Mitgliedsländer“, meint Prof. Dr. Hans Uszkoreit vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) und Koordinator von META-NET.
Die geplante Initiative beschränkt sich nicht auf Übersetzungssoftware, sondern sieht Sprachtechnologie als Schlüsseltechnologie innerhalb der Kommunikations- und Informationstechnologien. IT-Weltkonzerne wie Google, Microsoft und IBM haben das Potential längst erkannt und kräftig in den Bereich investiert. In Europa haben sich hunderte kleine und mittlere Betriebe auf sprachtechnologische Anwendungen und Dienstleistungen spezialisiert. Die Technologie umgibt uns bereits heute. Sie hilft uns unsichtbar beim Schreiben einer SMS oder bei der Suche im Internet. Sprachtechnologie steckt in der Rechtschreib- und Grammatikprüfung unserer Textverarbeitung, in der Sprachsteuerung der Autoelektronik und des Smartphones, sie gibt uns Empfehlungen im Online-Buchshop und Inhaltsübersetzungen von Webseiten. In naher Zukunft werden wir in der Lage sein, mit Computern, Haushaltsgeräten und anderen Maschinen zu sprechen. Ganz wichtig wird die Sprachbedienung auch für die lang ersehnten Service-Roboter, die bald Einzug in unsere Arbeits- und Wohnumgebungen halten werden. Dann können wir auch an jedem Ort der Welt mit unserer eigenen Sprache Informationen und Hilfe einholen. Der Abbau der Kommunikationsbarrieren zwischen Mensch und Technologie wird die Welt verändern.
Für die Entwicklung von neuen Anwendungen für eine Sprache benötigt man große Mengen von Texten und Sprachaufnahmen aber auch grundlegende Analysewerkzeuge. Auf dem META-FORUM wird eine Plattform für den Austausch und die gemeinsame Nutzung solcher Sprachressourcen präsentiert. Unter dem Namen META-SHARE soll der Dienst die Kosteneffizienz und Leistungsfähigkeit der Technologieentwicklung erhöhen.
Abschließend die wichtigste Botschaft des META-FORUM 2011: Obwohl die EU und ihre Mitgliedsstaaten bereits zahlreiche Einzelprojekte unterstützt haben, wird die technologische Kluft zwischen den „großen“ und „kleinen“ Sprachen immer größer. Um die fehlenden Ressourcen und Technologien zu entwickeln und bestehende Technologien auf die Erfordernisse der vielen anderen Sprache anzupassen, wären Aufwände nötig, die in Umfang und Koordination die bestehenden Fördermöglichkeiten sprengen. Es gibt gute Gründe, das Mammutvorhaben als eine europaweite Gemeinschaftsaktion anzugehen - die gewünschte Interoperabilität der Ressourcen, Werkzeuge und Technologien, der notwendige Technologietransfer zwischen Sprachen, die hohen Pro-Kopf-Kosten für die kleineren Sprachen, und der Umstand, dass die Sprachgrenzen oft nicht mit den politischen Grenzen zusammenfallen. Europa muss seine Sprachen für den Erfolg im digitalen Zeitalter rüsten.#
META-Forum 2011
Solutions for Multilingual Europe
June 27/28, 2011
Hotel Marriott, Budapest, Hungary